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Historisches

Vom Altertum bis zur Moderne

Schon aus dem alten Ägypten gibt es Hinweise für die Beschäftigung mit Stimmdefekten, Sprechfehlern und deren "Heilung". Im 5. Jahrhundert v. Chr. betrieben die Griechen Stimm- und Sprechübungen. Hippokrates (460-370 v. Chr.) äußerte, dass die Stimme durch Lippen und Zunge gegliedert werde und Pythagoras (570-510 v. Chr.) stellte fest, dass die Höhe der Stimme von der Schwingungsgeschwindigkeit des Stimmgebers abhänge. Von Galen (129-216 n. Chr.) sind erste Erkenntnisse über Anatomie und Physiologie des Kehlkopfes und des Atmungsapparates überliefert, die z. T. durch Sektionen gewonnen wurden.

Erst aus Jahrhunderten später, als es in der Renaissance wieder zu einem Aufleben wissenschaftlicher Forschung kam, sind von Leonardo da Vinci (1452-1519) Aufzeichnungen über die Stimmlippen sowie Theorien zu Stimmgebung und Hören überliefert (ca. 1500 n. Chr.). Hieronymus Fabricius (1537-1619) erkannte Mitte des 16. Jhd. an Leichen, dass die Stimmlippen als Schallquelle dienen. Etwa hundert Jahre später beschrieb Galileo Galilei (1564-1645) die "Resonanz". 1700 gelang Johann Konrad Ammann (1564-1642) die Erzeugung eines Tones mit einem Leichenkehlkopf. 1741 verglich der französische Anatom Antoine Ferrein (1693-1769)  die Kehlkopfbänder mit den Saiten einer Violine, prägte den Begriff "cordes vocales" (Stimmbänder), und fand einen Zusammenhang zwischen Glottisgröße und Lautstärke der Stimme. Ende des 18. Jhd. baute Wolfgang von Kempelen (1734-1804) eine "sprechende Maschine", in der von einem lufttreibenden Windsack ein Elfenbeinplättchen im Elfenbeinrohr zur "Stimmerzeugung" angeblasen wurde. In seinem 1791 erschienenen Buch "Physiologie der Lautbildung" veröffentlichte er wertvolle Vorstudien zur "Maschine". Manuel Garcia (1805-1906), ein spanischer Opernsänger und Musikpädagoge, gelang 1855 die Spiegelung seines eigenen Kehlkopfes mit einem Spiegel. Dabei  beobachtete er die Bewegungsabläufe beim Singen und gilt somit als Erfinder der Laryngoskopie.

Im 1837 vom Anatomen und Physiologen Johannes Peter Müller (1801-1858), dem Begründer der modernen Physiologie, herausgegebenen "Handbuch der Physiologie" wurden Stimme und Sprache ausführlich behandelt. Er beschrieb die "myoelastisch-aerodynamische Theorie". 1863 stellte Hermann von Helmholtz (1821-1894) in seiner "Resonatortheorie" den Vokaltrakt als ein System von gekoppelten Hohlräumen dar.

 

100 Jahre Phoniatrie und Pädaudiologie

Ende des 19. Jhd. beschäftigte sich Hermann Gutzmann sen. (1865-1922) nach Abschluß seines Medizinstudiums in Berlin mit Sprachheilkunde, promovierte "Über das Stottern" und begründete mit seiner Hablitationsschrift (1904) und seiner Antrittsvorlesung "Die Sprachstörungen als Gegenstand des klinischen Unterrichts" 1905 an der Berliner Charité die Stimm- und Sprachheilkunde als akademisches Lehrfach. Anfang des 20. Jhd. erfuhr die Stimmforschung und -therapie eine rasante Entwicklung, als Schüler Gutzmanns in ganz Deutschland spezialisierte Abteilungen und Sprechstunden einrichteten und Max Nadoleczny (1874-1940) in München sogar einen eigenen Lehrstuhl bekam. Etwas mehr als zehn Jahre reichten aber in der Folgezeit aus, um Deutschland seiner bedeutenden Stellung in der internationalen Wissenschaft zu berauben. Dies traf gleichermaßen die Stimm- und Sprachheilkunde.

 

Die Phoniatrie in Marburg

Auch in Marburg war die Phoniatrie mit außerordentlich bedeutenden Wissenschaftlern vertreten. In den 30er Jahren zählten dazu Prof. Rudolf Schilling (1876-1964) und Prof. Helmut Loebell (1894-1964). Sie können damit zu den ersten Vertretern des Fachgebietes in Marburg gerechnet werden. Unter der Leitung von Prof. Dr. med. Julius Berendes (1907-2001) wuchs die Bedeutung der Phoniatrie, was sich in zahlreichen Publikationen widerspiegelte. Im Jahre 1957 verfasste Dr. Anton Schilling (1927-1966) u. a. Arbeiten über die organische Ursache des Stotterns sowie über die Röntgen-Zwerchfell-Kymographie; zudem widmete er sich dem sprach- und stimmgestörten Klein- und Schulkind.

Diese Thematik hat auch in der Gegenwart Bedeutung. Eine Studie unter Leitung von Prof. Dr. med. Roswitha Berger zum Sprachstand vierjähriger Vorschulkinder in Hessen konnte bei 28% der untersuchten Kinder Sprachentwicklungsstörungen nachweisen. Untersuchungen, die sich mit der Diagnostik und Therapie von schwerhörigen Kindern befassten, wurden ebenfalls in Marburg zum Schwerpunkt bedeutender wissenschaftlicher Aktivitäten. Neben den ersten Veröffentlichungen zur Verwendbarkeit von elektrischen Hörgeräten bei Vorschulkindern durch Dr. G. Beckmann, entwickelte der gleiche Autor auch einen sprachaudiometrischen Bildtest für Vorschulkinder.

Prof. Berendes konnte 1962 Prof. Elimar Schönhärl (1916-1989) nach Marburg holen und trug ihm die Leitung der Abteilung Phoniatrie an. Seine wissenschaftliche Abhandlung zur Stroboskopie hat bis in die heutige Zeit Bedeutung. Er war auch Begründer und Direktor der staatlichen Logopädenanstalt, einer der ersten Schulen Deutschlands, an der Logopäden ausgebildet werden. Nach seinem Tode übernahm Dr. Eberhard Kruse, der später auf eine Professur nach Göttingen berufen wurde, die Abteilung und führte die von Prof. Schönhärl wahrgenommenen Arbeiten und Aktivitäten bis 1991 fort. Prof. Antoinette am Zehnhoff-Dinnessen war nur für ein Jahr von 1991-1992 in Marburg tätig und trat dann die Nachfolge von Prof. Dr. Hans-Hermann Bauer in Münster an.

1992 ernannte die Bundesärztekammer die Phoniatrie und Pädaudiologie zum eigenständigen medizinischen Fachgebiet. 1993 folgte Univ.-Prof. Dr. med. Roswitha Berger dem Ruf nach Marburg. Seit dieser Zeit konnte sich die Abteilung, die 1998 zur "Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie" umbenannt wurde, unter ihrer Leitung stetig weiterentwickeln. 2015 wurde Prof. Dr. med. Dr. med. habil. Christiane Hey zur Nachfolgerin von Prof. Berger ernannt.

In der Krankenversorgung werden alle fachspezifischen Bereiche in Diagnostik und Therapie umfassend versorgt. Zusätzlich wurden spezielle klinische Schwerpunkte aufgebaut. Auf pädaudiologischem Gebiet stand die Einführung des Neugeborenen-Hörscreenings mit entsprechender Nachsorge für den gesamten nordhessischen Bereich. In jüngster Zeit hat die Anpassung von Cochlear Implantaten (CI) einen hohen Stellenwert erhalten und ist ein Beispiel der engen Zusammenarbeit mit der HNO-Klinik am Zentrum.

Die Beratung und Behandlung für Berufssprecher und Sänger durch leistungsbezogene Stimmdiagnostik stellt einen besonderen Schwerpunkt dar. Auch Untersuchungen zur Sprach- und Hörverarbeitung haben sich als ein spezieller Diagnostikbereich herauskristallisiert.