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Historisches

Sammelband zur 400-Jahr-Feier der Justus-Liebig-Universität Gießen

Band 3: Geschichte der Medizinischen Fakultät seit der Wiedergründung der Universität Gießen (1957 - 2007) - Herausgeber Prof. Dr. med. Volker Roelcke

Autor: Prof. Dr. med. Reinhard G. Bretzel (Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik III von 2000-2011)

 

Die Anfänge
Die Medizinische Poliklinik, heute Medizinische Klinik und Poliklinik III, wurde 1923 gegründet. Ihr erster Ärztlicher Direktor war Prof. Dr. Wilhelm O. Stepp, ein Schüler von Geheimrat Professor Friedrich L. Voit. Unter seinem Nachfolger in Gießen, Prof. Dr. Georg Haas (1886-1971) wurde die Poliklinik ausgegliedert und zog im Jahre 1933 in das Gebäude der ehemaligen Städtischen Waage in der Frankfurter Straße 63.

Georg Haas gilt weltweit als Erfinder der Hämodialyse (Blutwäsche) beim Menschen. Nachdem er im Oktober 1924 erstmals eine extrakorporale Dialyse am Menschen erfolgreich durchgeführt hatte, veröffentlichte er 1925 darüber einen kurzen Artikel in der Klinischen Wochenschrift (Haas 1925). Ein noch erhaltenes Originalbild aus dem Jahr 1926 dokumentiert die weitere Praxis der Dialyse in diese Zeit. Vorausgegangen waren umfangreiche Experimente an Hunden. An dieser Pioniertat sind zwei Dinge besonders bemerkenswert: Erst nach Erfolgversprechenden Versuchen in Labor und Tierexperiment wurde der Schritt zur klinischen Anwendung am Menschen zunächst im Kurzzeitversuch (über 15 Minuten) gewagt – ein  historisches Beispiel verantwortungsbewußter, translationaler Forschung ("from bench-to-bedside"). Weiterhin bemerkenswert ist, dass die experimentellen und klinischen Arbeiten aus Mitteln der Rockefeller-Foundation unterstützt wurden – ein frühes Beispiel für die erfolgreiche Einwerbung von (internationalen) Drittmitteln. Heute werden die Verdienste von Georg Haas auch in internationalen Publikationen gewürdigt (Paskalev 2001).

Dem Selbstverständnis nach entstanden Polikliniken (vom Griech. polis: Stadt) als Bindeglied zwischen Praxis und Klinik zur ambulanten Untersuchung von Patienten. Da die Diagnostik von Krankheiten im Vordergrund der Tätigkeit stand, hatten diese Kliniken in ihren Anfangsjahren keine eigenen Betten, waren aber meist an eine Betten-führende Medizinische Klinik angegliedert. Mit den zunehmenden diagnostischen Möglichkeiten und Aufgaben, vielfach komplexeren Krankheitsbildern, multimorbiden Patienten und einem Untersuchungsumfang über mehrere Tage wurde der Bedarf an größeren Funktionsräumen, aber auch an einer selbständigen Bettenabteilung immer dringlicher. Auch für die Facharztausbildung der Assistenten war eine Bettenabteilung unbedingt erforderlich. Zunächst behalf sich der Direktor der Medizinischen Poliklinik, Prof. Haas, damit, dass er die Assistenten an seiner ärztlichen Tätigkeit im St. Josefs-Krankenhaus in der näheren Nachbarschaft teilnehmen ließ. Nach der Emeritierung von Haas 1955 war dies aber nicht mehr möglich.

Die Schwerpunkte der frühen poliklinischen Krankenversorgung lagen besonders auf dem Gebiet der Lungenerkrankungen, im speziellen der Lungentuberkulose, der damals bedeutungsvollsten Volkskrankheit. Ein Novum für die Bevölkerung des Gießener Raumes war die Errichtung einer Diabetiker-Fürsorgestelle, wobei sich ein Bogen zu einem heutigen Schwerpunkt der Klinik spannt. Die Fürsorge bezog sich nicht nur auf den Stadt- und Landkreis Gießen, sondern auch auf Oberhessen, wo die Medizinische Poliklinik in Alsfeld und Büdingen Beratungen abhielt. Wie segensreich sich diese Diabetes-Fürsorge auswirkte, belegt ein Hinweis des ehemaligen Leiters der hessischen Medizinalabteilung in Wiesbaden, Ministerialrat Prof. von Drygalski, wonach die Diabeteserkrankungen in ihrem Verlauf in Oberhessen im Vergleich zu anderen Gegenden Hessens besonders günstig abschnitten. Dazu hat sicher beigetragen, dass gründliche Verlaufsbeobachtungen bei 263 Patienten erhoben wurden, erste Qualitätskontrollen erfolgten und erstmalig die Patienten selbst geschult wurden. Ein besonderes Augenmerk wurde auch auf die Koinzidenz von Diabetes und Hypertonie gelegt. Alle diese Bemühungen wurden in einer medizinischen Dissertation von Kurt Breitfort (1937) beschrieben.

Der Neubau der Medizinischen Poliklinik
Im Jahre 1955 wurde Prof. Dr. Thure von Uexküll (1908-2004) zum Nachfolger von Haas berufen. Verbunden damit war die Zusage für die Errichtung einer Bettenabteilung und den weiteren Ausbau der Medizinischen Poliklinik. Diese Bettenabteilung war zunächst provisorisch in der Augenklinik untergebracht. Es sollten noch weitere neun Jahre vergehen, ehe am 1. April 1964 ein nach den Vorstellungen von v. Uexküll geplantes neues Gebäude an der Ecke Rodthohl/Friedrichstraße bezogen wurde. Erstmals waren nun der umfangreiche poliklinisch-diagnostische Bereich und ein dreigeschossiger Bettentrakt mit 64 Betten unter einem Dach vereinigt. Gleichzeitig beherbergte das Gebäude eine Röntgenabteilung, Räume für die Klinische Chemie, einen Hörsaal und im Bettentrakt einige Spezialzimmer für die nuklearmedizinische Behandlung mit Radioisotopen.

Prof. Dr. Thure von Uexküll gilt als ein Begründer und Nestor der Psychosomatischen Medizin. Der interaktionelle Umweltbegriff seines Vaters (des Biologen Jakob von Uexküll, Stifter des heutigen alternativen Nobel-Preises) beeinflusste sein Denken nachhaltig (Geigges 2005). Daneben geprägt durch seinen Lehrer Gustav von Bergmann, ging es ihm stets darum, die Wechselwirkung von Psyche und Soma herauszustellen und die Vernachlässigung des Körpers, die zeitweise die Psychosomatische Medizin beherrschte, aufzuheben. Sehr früh maß er der studentischen Lehre eine große Bedeutung bei und entwickelte sich zum Verfechter einer Reform des Studentenunterrichts. Er bezog Medizinische Soziologie und Psychoanalyse in die medizinische Forschung und Lehre ein. An der Aufnahme der Fächer Psychosomatik und Psychotherapie, Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie in die revidierte ärztliche Approbationsordnung (ÄAO) von 1970 war von Uexküll maßgeblich beteiligt. Ebenso engagierte er sich für eine Reorganisation der Fakultätsstrukturen in Richtung auf ein demokratischeres und kooperativeres Departmentsystem und wurde Mitglied der Gründungskommission der Medizinischen Fakultäten der Universitäten Aachen und Ulm.

Nachdem von Uexküll 1966 einen Ruf an die Universität Ulm angenommen hatte, folgte ihm Prof. Dr. Hans J. Dengler (1925-1997) auf den Gießener Lehrstuhl; 1968 wurde er zum Direktor der Medizinischen Poliklinik ernannt. Er hatte sich für Labormedizin (1961) und Innere Medizin (1962) an der Universität Heidelberg habilitiert. Die Belange des jungen Faches Klinische Pharmakologie waren ihm ein besonderes Anliegen, und er verhalf dieser neuen Disziplin zum Durchbruch in Deutschland. Die Giessener Medizinische Poliklinik leitete er nur vier Jahre, um 1972 einem Ruf an die Universität Bonn zu folgen. Die Deutsche Gesellschaft für Experimentelle und Klinische Pharmakologie und Toxikologie e.V. (DGPT) verleiht alljährlich zu seinen Ehren den Hans J. Dengler Preis für Klinische Pharmakologie.

30 Jahre Lehrstuhl für Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie
Nach der Wegberufung von Hans Dengler blieb der Gießener Lehrstuhl für Innere Medizin III vier Jahre lang verwaist. Die kommissarische Leitung der Klinik lag in den Händen von Prof. Dr. Dieter L. Heene, Oberarzt der Medizinischen Klinik I und später Ordinarius für Innere Medizin am Klinikum Mannheim der Universität Heidelberg. Zum 1. September 1976 wurde Prof. Dr. Konrad F. Federlin von der Universität Ulm als Direktor der Klinik berufen. Mit seinem Kommen wurde der Lehrstuhl neu als Professur für Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie definiert. Er besteht nun bereits über 30 Jahre und ist mittlerweile der einzige Lehrstuhl mit diesem Schwerpunkt an den hessischen Universitäten.

In den ersten Monaten nach Federlins Dienstantritt wurden ein endokrinologisches Laboratorium, ein immunologisches Labor (Immunendokrinologie) sowie zwei kleinere Laboratorien für wissenschaftliche Fragen im Gebiet Nephrologie und Pulmologie eingerichtet. Durch die Anschaffung verschiedener Geräte (Gamma-Counter, Kühlzentrifuge, Arbeitsplatz für Zellkulturen etc.) wurde die Basis für die zukünftigen wissenschaftlichen Tätigkeiten gelegt. Gleichzeitig formulierte Federlin seine künftigen Forschungsfelder: Klinische und experimentelle Endokrinologie mit Betonung des Diabetes und der Schilddrüsenerkrankungen, verschiedene Autoimmunerkrankungen, Kollagenosen sowie chronische Nieren- und Lungenerkrankungen (Federlin K, 1976). Später kam als weiterer Schwerpunkt noch die Osteologie hinzu.

In einer Person Arzt, Forscher und Hochschullehrer zu sein, empfand Konrad Federlin nicht als Last, vielmehr sah er darin einen besonderen Glücksfall. Mit großer Beharrlichkeit widmete er sich der Vision, Diabetiker durch Transplantation von Langerhansschen Inselzellen (den Orten der Insulinproduktion) von täglichen Insulininjektionen zu befreien und ihnen das Schicksal schwerer diabetischer Organfolgeschäden zu ersparen. Noch an der Universität Ulm hatte er mit einer jungen Arbeitsgruppe, der sein späterer Nachfolger Dr. Reinhard G. Bretzel bereits angehörte, begonnen, im Tierexperiment die Methode der Inseltransplantation zu entwickeln. In Gießen wurde das Verfahren kontinuierlich weiter entwickelt (Bretzel 1984). Ganz im Sinne der heute mit translationaler Forschung bezeichneten Vorgehensweise wurde die Methode schließlich am Menschen angewandt. Am 26. November 1992 gelang der Arbeitsgruppe Konrad F. Federlin, Reinhard G. Bretzel und Bernhard J. Hering erstmals im Bereich von EUROTRANSPLANT (Benelux-Länder, Deutschland, Österreich und Slowenien) eine erfolgreiche Transplantation von isolierten Langerhansschen Inseln bei einer Patientin mit einem Typ 1 Diabetes. Die Inseln wurden in Suspension, ohne Operation bei lokaler Betäubung mittels Kathetertechnik in die Leberpfortader implantiert; mehrere Monate später konnte die Patientin gänzlich auf Insulininjektionen verzichten (Bretzel 1993).

Federlin übernahm die Sprecherfunktion eines Deutschlandweiten Schwerpunktprogramms der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) "Ursachen und Folgen des Insulinmangels" und eines Forschungsprojektes "Bioartifizielles Pankreas" im Forschungsverbundvorhaben des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBF) "Biomembranen". 1989 etablierte seine Arbeitsgruppe das "International Islet Transplant Registry", welches die weltweit durchgeführten klinischen Inselzelltransplantationen registrierte und auswertete. Er war u.a. Präsident der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (1980) und der EASD Study Group "Artificial Insulin Delivery Systems, Pancreas and Islet Transplantation“ (1990) sowie langjährig Editor-in-Chief der Zeitschrift Immunität und Infektion. Sein Publikationsverzeichnis umfasst mehr als 900 Originalarbeiten. Für seine wissenschaftlichen Arbeiten und Verdienste erhielt er den Ferdinand-Bertram-Preis (1968) und die Paul-Langerhans-Medaille (1989) der Deutschen Diabetes-Gesellschaft, die Richard-Hammer-Medaille der Hessischen Ärztekammer (1989), die Berthold-Medaille der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (1993), die Ehrenmitgliedschaft der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (1998) und der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (1998). Die Universitäten Istanbul (1992) und Konya (1994) in der Türkei verliehen ihm die Ehrendoktorwürde.

Konrad Federlin wurde im September 1996 emeritiert. Nach wie vor nimmt er am wissenschaftlichen Geschehen und der Klinik regen Anteil. Über sein aktives Berufsleben hinaus diente er der Medizinischen Fakultät langjährig als Vorsitzender der medizinischen Ethikkommission.

Der Lehrstuhl wurde zunächst nicht wieder besetzt. Die kommissarische Leitung der Medizinischen Poliklinik übernahm zum 1. Oktober 1996 der geschäftsführende Oberarzt und Leiter des Inseltransplantationsprogrammes Prof. Dr. Reinhard G. Bretzel. Er erhielt im Jahre 1999 einen Ruf auf den Lehrstuhl für Innere Medizin mit Schwerpunkt Endokrinologie der Universität Leipzig. Nach längeren Berufungsverhandlungen und Rufablehnung wurde er schließlich 2000 als Nachfolger von Konrad Federlin auf den Gießener Lehrstuhl berufen und zum Direktor der Medizinischen Poliklinik ernannt, die er bis 2011 leitete.

 

 

 

 

 

Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH, Standort Gießen

Zentrum für Innere Medizin

Medizinische Klinik und Poliklinik III, Klinikstr. 33, 35392 Gießen

Direktor: Prof. Dr. med. Andreas Schäffler (seit 01. Juni 2013)

 

Während einer längeren Interimszeit von 2011 bis 2013 wurden unter der kommissarischen Leitung von Herrn Prof. Dr. Hilmar Stracke umfangreiche Re-Strukturierungsmaßnahmen durchgeführt. Einige Fachbereiche, wie die der Gastroenterologie und der Infektiologie, wurden aus der Kernklinik der Medizinischen Klinik und Poliklinik III herausgenommen. Des Weiteren erfolgte in dieser Zeit der Umzug der Klinik vom ehemaligen Rodthohl in den Neubau des Universitätsklinikums in der Klinikstraße 33. Die Übernahme des Lehrstuhls für Innere Medizin mit dem Schwerpunkt Endokrinologie, Diabetologie, Stoffwechsel und Ernährungsmedizin seit 01. Juni 2013 durch Prof. Dr. med. Andreas Schäffler erfolgt in einer dualen Funktion aus W3-Professur am Fachbereich 11 (Humanmedizin der Justus-Liebig-Universität Gießen) und einer Chefarztfunktion am Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Standort Gießen, des Rhön-Klinikums AG. Die medizinisch-klinischen Schwerpunkte liegen hier auf dem Gebiet der Adipositas, des diabetischen Fuß-Syndroms, aller Formen des Diabetes mellitus, sowie auf den Erkrankungen der allgemeinen und speziellen Endokrinologie. Klinisch erfolgt hier eine Vernetzung zwischen den konservativen Therapieansätzen für die Adipositas mit den chirurgischen Ansätzen aus der bariatrischen Chirurgie.

 

Fotos: UKGM, Universitätsarchiv der UB Gießen und private Sammlung von Andreas Schultz.

Materialien: