Das Hörorgan entwickelt sich bis zum dritten Schwangerschaftsmonat und ist
dann bereits voll ausgebildet, das heisst, es wächst nicht mehr und ist
funktionsfähig. Untersuchungen an Schwangeren konnten auch zeigen, dass es
kindliche Reaktionen auf Schallreize gibt. Dennoch darf man sich nicht
vorstellen, dass ein Kind im Mutterleib bereits "hören" kann, denn
es kann die Schallwahrnehmung in ihrer Bedeutung nicht zuordnen.
Selbst zum Zeitpunkt der Geburt kann der Säugling Schall aufgrund der
Unreife seines Gehirns noch nicht so wie Erwachsene verarbeiten. In den
ersten Lebensmonaten reift die Nervenverbindung zwischen Innenohr und Gehirn
- die so genannte Hörbahn - unter Einfluss akustischer Stimuli. Gerade weil
die Mutter ihrem Baby mehr Fähigkeiten unterstellt als es tatsächlich schon
besitzt, kommt ein virtuoser Zirkel in Gang: Sie spricht ihm etwas vor; das
Baby lächelt zurück, weil sie sich über es gebeugt hat. Die Mutter
interpretiert das Lächeln als Antwort und fühlt sich ermuntert, noch mehr zu
ihrem Kind zu sprechen. Nur durch die akustische Stimulation finden die
Nervenzellen der Hörbahn den richtigen Anschluss zu den Hörzentren im Gehirn
einerseits und der Hörschnecke im Innenohr andererseits. Der Aufbau der
Nervenverbindungen tritt mit dem sechsten Lebensmonat in eine sensible Phase
ein. Mit anderthalb Jahren ist die Hörbahnreifung abgeschlossen.
Und hier liegt das Problem. Wenn bis zu diesem Zeitpunkt die Hörbahn nicht
akustisch stimuliert worden ist, bleibt die Fähigkeit der entsprechenden
Nervenzellen, Hörreize adäquat zu verarbeiten und weiterzuleiten,
unterentwickelt.
Selbst eine hochgradige Schwerhörigkeit wird bis heute bei Kindern teilweise leider erst im Alter von 21 bis 24 Monaten diagnostiziert, selbst dann, wenn die Eltern schon sehr viel früher den Verdacht einer Schwerhörigkeit geäußert haben. Mit dieser vermeidbaren Verzögerung der Rehabilitation wird die Gesamtentwicklung des Kindes erheblich, in einigen Fällen unaufholbar, beeinträchtigt. Als Landesärztin für Hör- und Sprachgestörte plädiere ich deshalb für ein Hörscreening, eine Untersuchung aller Neugeborenen auf die Funktionsfähigkeit des Gehörs.
Seit 1994 werden im Deutschen Zentralregister für kindliche Hörstörungen
am Universitätsklinikum Benjamin Franklin in Berlin bundesweit Kinder mit
permanenten Hörstörungen erfasst. Neben der Diagnose werden hier auch
bekannte Risikofaktoren erfasst. Insbesondere weiß man viel zu wenig über
die Häufigkeit einzelner Krankheitsursachen und die Entstehung der
jeweiligen Hörstörungen. Bisher kann die Zahl permanent hörgestörter Kinder
in Deutschland nur grob geschätzt werden. Weltweit liegt die Häufigkeit
kindlicher Hörstörungen zwischen 0,9 und 13 Prozent. Das Ausmaß hängt eng
mit dem jeweiligen Stand der medizinischen Versorgung zusammen. Etwa 500 000
Kinder gelten in Deutschland als hörgestört.
Die schwerwiegenden Konsequenzen einer permanenten kindlichen Hörstörung
werden in der Bevölkerung weitgehend unterschätzt. Die betroffenen Kinder
wirken nicht krank. Die beeinträchtigte Kommunikationsfähigkeit fällt
besonders bei kleinen Kindern nicht auf, zumal im ersten Lebensjahr die
sprachlichen Fähigkeiten stark reduziert sind und die Sprachentwicklung extremen individuellen
Schwankungen unterliegt. Mangelnde Hörreaktionen werden häufig als
Vertieftsein in ein Spiel oder als individuelle Eigenheit ohne weitere
Bedeutung fehlinterpretiert. Außerdem haben hörgestörte Kinder häufig
Ersatzstrategien entwickelt, verfügen über ein überdurchschnittlich großes
Situationsverständnis und wirken durch den konzentrierten Blickkontakt
besonders zugewandt.
Eine Reifung der Hörbahn ist nur dann möglich, wenn das äußere Ohr normal
entwickelt ist und weder die Schallaufnahme noch
die Weiterleitung im Mittel- und Innenohr gestört
sind. 85 Prozent aller Hörstörungen haben ihre Ursache im Ohr und nicht im
zentralen Nervensystem. Im äußeren Ohr kann der Schalltransport zum Beispiel
durch Missbildungen, im Mittelohr durch Entzündungen behindert werden
während im Innenohr eine Funktionsstörung der Haarzellen in der Hörschnecke
eine Schallempfindungsschwerhörigkeit zur Folge hat.
Für Kinder, die Sprache erst erwerben müssen, schränkt jeder Grad einer
Schwerhörigkeit die Entwicklung ein. Schallleitungsschwerhörigkeiten sind
hier günstiger einzuschätzen, da eine medizinische Behandlung die Hörstörung
vollkommen ausheilen oder zumindest verbessern kann.
Innenohrschwerhörigkeiten lassen sich dagegen nicht mit operativen oder
medikamentösen Maßnahmen heilen. Hörstörungen müssen also sehr zeitig
ausgeschlossen werden, damit die Hörbahn komplett reifen kann.
In Deutschland wurde als einem der ersten Länder die eigenständige
fachärztliche Disziplin "Phoniatrie und Pädaudiologie" geschaffen.
Die Aufgaben bestehen in der Prophylaxe, Diagnostik, Therapie und
Rehabilitation von Hör-, Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen bei
Kindern. Für uns bedeutet das, dass die Hörfähigkeit bereits bei Säuglingen
in den ersten sechs Monaten geprüft werden sollte. Prinzipiell ist eine
Hörprüfung schon unmittelbar nach der Geburt möglich.
Bei der Höruntersuchung muss unbedingt das Entwicklungsalter des Kindes
berücksichtigt werden. Nach allem Gesagten sollte klar sein, dass Kinder
nicht in der gleichen Weise wie Erwachsene hören, solange das Hörsystem noch
nicht ausgereift ist. Außerdem sind sie erst im Alter von vier bis fünf
Jahren in der Lage, in einer Testsituation Angaben der Art "gehört oder
nicht gehört" über ihr Hörvermögen abzugeben.
Um eine Reflex-Antwort auf eine Hörreaktion zu erhalten, müsste eine
Säugling mit mit einem sehr großen Schallpegel (80 bis 90 dB) beschallt
werden. Dies entspricht dem Verkehrslärm einer lauten Durchgangsstraße. Eine
Reaktion auf einen solchen Reiz ließe sich zum Beispiel durch eine
Schreckreaktion wie dem Zusammenzucken von Armen und Beinen oder Zwinkern
der Augen erkennen. Solche Überprüfungen sind zwar wertvoll, lassen aber
keine zuverlässige Schlussfolgerung auf die Hörschwelle zu. Zudem sind die
Schreckreaktionen ein halbes Jahr nach der Geburt nicht mehr auslösbar. Zum
Glück für die kindliche Hördiagnostik gibt es auch objektive Hörtests. Zum
Ausschluss einer Schwerhörigkeit werden zwei verschiedene Verfahren
eingesetzt.
Die Hirnstamm-Audiometrie (BERA) ist ein sehr sicheres Verfahren, um eine
Hörstörung auszuschließen. Wir setzen dazu Elektroden auf den Kopf des
Kindes, mit denen die Hirnströme bei akustischer Reizung registriert werden
können. Die Schallsignale bestehen aus Clicks, die mit einem Kopfhörer auf
das Ohr übertragen werden. Wie der Name sagt, können so Hörreaktionen bis
zum Hirnstamm - einem Teil der zentralnervösen Hörbahn - nachgewiesen
werden. Wenn das Kind tatsächlich etwas hört, können akustisch evozierte
Reizantworten dargestellt werden. Dies sind typische Wellenmuster, die den
Nervenzellkernen im Hirnstamm zugeordnet werden können.
Die Kinder müssen während der Untersuchung ruhig sein, um die Reizantworten
richtig interpretieren zu können. Der natürliche Schlaf ist dafür besonders
gut geeignet. Wenn Kinder größer sind und nicht mehr von alleine schlafen,
wird diese Untersuchung zusammen mit einem Anästhesisten in Maskennarkose
durchgeführt. Wir sind heute technisch in der Lage, mit einer solchen
Hirnstamm-Audiometrie den Hörverlust in bestimmten Teil-Frequenzbereichen
(500Hz, 1, 2 u. 4kHz) des Sprachspektums zu ermitteln. Dies ist für eine
evtl. notwendige Hörgeräteversorgung bedeutsam.
Der Nachweis von otoakustische Emissionen (OAE) kann zum Hörscreening bei Säuglingen eingesetzt werden. Das Ohr produziert bei Schallanregung selbst ein "cochleäres Echo", welches mit einem sehr empfindlichen Mikrofon im äußeren Gehörgang gemessen werden kann. Die Entstehung dieser otoakustischen Emissionen hängt eng mit der aktiven Vorverarbeitung des Schalls im Innenohr zusammen. Lassen sich keine Emissionen messen, spricht dies für eine Innenohr-Funktionsstörung im Bereich der äußern Haarzellen. Allerdings muss sichergestellt sein, dass keine Mittelohrstörungen vorliegen, da sich ebenfalls keine Emissionen nachweisen lassen, wenn der Reiz und die otoakustischen Emissionen durch Schallleitungsstörungen im Mittelohr stark gedämpft werden.
Durch den Einsatz dieser genannten objektiven Hörprüfmethoden sind wir in der Lage, sehr zeitig eine Hörstörung zu erkennen. Die Messung der otoakustischen Emissionen bringt uns lediglich den Nachweis, ob eine Hörstörung vorliegt. Mit der Hirnstamm-Audiometrie kann der Hörverlust quantifiziert werden.
Zur Diagnostik müssen sowohl subjektive Methoden als auch objektive
Tests, die sich gegenseitig ergänzen, verwendet werden, was die Überprüfung des
Gehörs sehr aufwendig macht. Die subjektive Hördiagnostik erfordert
geschulte Mitarbeiter, die die Reaktionen von Säuglingen und Kleinkindern
richtig bewerten können. In den ersten Lebensmonaten lassen sich Reflexe
nach einem lauten Hörreiz nachweisen. Später wird eine Verhaltensaudiometrie
möglich. Das richtige Zuordnen von Reiz und Hörwahrnehmung erfordert viel
Erfahrung.
Wenn eine bleibende Hörstörung diagnostiziert wird, muss das Kind sofort mit
einem Hörgerät versorgt werden. Damit beginnt die intensiven Rehabilitation.
Die Eltern haben in diesem Prozess eine wichtige, wenn nicht die wichtigste
Aufgabe. Dazu kommen der Hörgeräteakustiker, die pädagogische Frühförderung,
der Pädaudiologe und andere. Setzt die intensive Förderung frühzeitig ein,
können selbst hochgradig schwerhörige Kinder Regelschulen besuchen.
Noch sind wir mit der bisherigen Entwicklung in der Erkennung
frühkindlicher Schwerhörigkeiten nicht zufrieden, denn der Anteil an
hochgradigen Schwerhörigkeiten hat in den letzten Jahren zugenommen. Dies
kann natürlich an einer verbesserten Diagnostik liegen, andererseits wissen
wir, dass bei so genannten Risiko-Kindern mehr Hörstörungen vorkommen. Da
der Anteil an Risiko-Kindern zugenommen hat, lässt sich auch so die Zunahme
an Hörstörungen erklären. In Marburg arbeiten wir eng mit der Kinderklinik
zusammen, um bei allen Risiko-Neugeborenen eine Hördiagnostik spätestens bis
zum 4. Lebensmonat zu verwirklichen.
Die Früherkennung lässt sich durch ein allgemeines Hörscreening weiter
verbessern, also eine Überprüfung sämtlicher Säuglinge auf ihre
Hörfähigkeit. Die Notwendigkeit eines generellen Hörscreenings wird auch in
den zuständigen Ministerien auf Länderebene gesehen, die derzeit daran
arbeiten, wie es sich umsetzen ließe.
Schall wird über das äußere Ohr aufgenommen, vom Trommelfell auf die Gehörknöchelchen im Mittelohr übertragen und von diesen an eine Membran im Innenohr weitergegeben. Auf der Basilarmembran sind Sinneszellen, so genannte Haarzellen, in zwei Reihen angeordnet. An der Stelle des Maximums der Basilarmembranauslenkung werden die äußeren Haarzellen, von denen es etwa 12000 in der Hörschnecke gibt, geschert. Angeregt durch die passive Scherung, wird die Schwingungsamplitude der Basilarmembran, mittels aktiver Unterstützung durch äußere Haarzellen, bei niedrigen und mittleren Schallpegeln, verstärkt. Die daraus resultiernde neuronale Erregung der inneren Haarzellen am gleichen Ort, von denen es etwa 3 000 gibt, wird über die Hörnerven weitergeleitet. Hohe Schwingungsfrequenzen lenken die Hörschnecke an deren Basis, tiefe an der Spitze maximal aus. Je nach dem Ort, an dem die Haarzellen maximal bewegt werden, werden also hohe oder tiefe Töne empfunden. Noch sind nicht alle Vorgänge bei der Verarbeitung von Hörreizen bekannt, aber es steht fest, dass die Verarbeitung des Schalls schon im Innenohr beginnt, und nicht etwa in den weiteren Etappen der Hörbahn oder erst in den Hörzentren des Gehirns.
Das erste Schreien eines Säuglings nach der Geburt markiert den Beginn der Sprachentwicklung. Sie verläuft über Jahre und kann individuell stark schwanken. Trotzdem gibt es Anhaltspunkte:
Die normale Sprachentwicklung sollte mit vier bis fünf Jahren abgeschlossen sein. Das bedeutet, dass ein Kind in der Lage ist, alle Laute richtig auszusprechen, dass es Sätze mit einfacher Grammatik bilden kann und einen kindgemäßen Wortschatz besitzt.