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Geschichte der Hebammenschule

Aus der Geschichte der Gießener Hebammenschule

 

Der 15. November 1814 ist als Gründungsdatum der mit der Frauenklinik verbundenen Hebammenlehranstalt anzusehen.

 

Erste Bestrebungen zur Gründung einer Hebammenschule in Gießen gehen auf Nebel zurück, der im Jahre 1772 beim Hessischen Ministerium die Errichtung einer Hebammenlehranstalt für Gießen beantragt hatte. Nebel hielt zu dieser Zeit an der Gießener Universität Vorlesungen über Chirurgie und Geburtshilfe. Er blickte bereits auf jahrelange Erfahrungen in der geburtshilflichen Lehre zurück, die er in Straßburg „cultiviert" hatte.

 

Nebels Ansinnen wurde wohlwollend aufgenommen. Bereits 1777 wurde in einem Fakultätsgutachten der Universität Gießen ein Plan zur Errichtung einer Hebammenlehranstalt vorgestellt. Der Realisation dieses Planes standen jedoch erhebliche finanzielle Probleme bereits bei dem zu errichtenden Gebäude entgegen.

 

Im Jahre 1790 stiftete Landgraf Ludwig X. bei seinem Regierungsantritt 10.000 Gulden unmittelbar zum Zwecke der Errichtung eines Landeshebammeninstitutes in Gießen. Es vergingen noch mehr als 20 Jahre bis zur Fertigstellung des Baues. Zwischenzeitlich war in Gießen ein Hebammenunterricht organisiert worden, der von dem Stadtphysikus Schwabe erteilt wurde. Schwabe war Professor für Geburtshilfe in Gießen, ohne über eine eigene Entbindungsanstalt verfügen zu können. Von Schwabe existiert ein „Katechismus für Geburtshilfe für Hebammen, besonders auf dem Lande" von 1798.

 

Die Aufgabe des Hebammenunterrichtes übernahm ab 1805 der außerordentliche Professor für Geburtshilfe Schulz. In dieser Zeit befanden sich die Unterrichtsräume für geburtshilfliche Übungen im Zucht- und Stockhaus in Gießen.

 

Als im Jahre 1811 mit dem Neubau des Entbindungshauses endlich begonnen wurde, standen die 1790 gestifteten Gelder, die durch die zwischenzeitliche Verzinsung nunmehr den Betrag von 18502 Gulden erreicht hatten, sofort zur Verfügung.

 

Nach unvollständiger Fertigstellung wurde das Haus in den Jahren 1813 und 1814 während der Befreiungskriege als Kriegslazarett benötigt, das der neu berufene Professor für Chirurgie und Geburtshilfe Dr. Ludwig Leonhard Hegar (1789-1814) als solches geleitet hat. Er fiel 1814 einer in diesem Lazarett ausgebrochenen Typhusepidemie zum Opfer. Nachfolger Hegars wurde Ferdinand August von Ritgen (1787-1867), der sich im Jahr 1814 in Gießen habilitiert hatte. Bei seiner Berufung erhielt Ritgen eine freie Dienstwohnung, seine Gegenverpflichtung bestand in der unentgeltlichen Erteilung des Unterrichts für die Hebammen. Im Entbindungshaus standen ihm eine Oberhebamme, ein Rechner und eine Wärterin zur Seite. Unter diesen, für heutige Vorstellungen kärglichen, Verhältnissen leistete er eine damals vorbildliche Organisation des Unterrichts für die Hebammen und die Studierenden der Medizin.

Bis zu Ritgens Dienstantritt hatte jeder Physikus in Hessen die Möglichkeit, Hebammen gegen ein geringes Honorar von 5-11 Gulden zu unterrichten. Dieser Unterricht erfolgte anhand von Kupferstichen, Tafeln, einzelnen Büchern und gelegentlich auch Phantomen.

 

Den Hebammenunterricht nahm Ritgen 1816 auf, nachdem entsprechende räumliche Verhältnisse geschaffen worden waren. Durch allerhöchste Resolution des Großherzogtums Hessen wurde die Aufgabe des Hebammenunterrichts im Jahr 1817 auf Mainz und Gießen aufgeteilt.

 

Schon damals musste, u. a. wegen bestehender Rivalitäten, der praktische Unterricht für Studenten von dem für Hebammen scharf getrennt werden. Lediglich die Monate April und Mai sowie Oktober und November waren der sich über zwei Monate erstreckenden Ausbildungszeit für Hebammen vorbehalten.

 

Ritgens entscheidende Schritte zur Verbesserung der Hebammenausbildung lagen erstens in seinem ausgefeilten Konzept des theoretischen Unterrichts, in dem den Hebammenschülerinnen die Kenntnis alter regelrechten und regelwidrigen Zustände, in denen sich Schwangere, Kreißende, Wöchnerinnen und Neugeborene befinden können, vermittelt werden sollte. Darüber hinaus sollten die Schülerinnen alle Möglichkeiten der Hilfestellung bei regelrechten Zuständen beherrschen und die Hilfsmöglichkeiten bei Regelwidrigkeiten bis zum Eintreffen eines hinzuzuziehenden Arztes genau kennen. Hier reichen die Instruktionen bis hin zur Wendung des Kindes im Notfall. Zweitens wurde der theoretische Unterricht im zweiten Monat durch praktische Übungen an Schwangeren und Kreißenden mit systematischem Erlernen der Touchieruntersuchungen an Schwangeren und der Verlaufsbeobachtungen von Entbindungen erweitert.

 

In dem Handbuch der Geburtshülfe aus dem Jahr 1824 hat Ritgen vor allem seine Kenntnisse über den normalen Geburtsvorgang sowie über die Geburtsstörungen und deren Beseitigungen dargelegt. Dieselbe Schrift erschien 1848 in vermehrtem Umfang unter dem Titel „Lehr- und Handbuch der Geburtshülfe für Hebammen". Dieses Werk enthält seine Lehre vom Dammschutz.

Um eine zweckmäßige Ausstattung der Klinik mit Lehrmitteln hatte sich Ritgen von Anfang an bemüht. Hierzu gehörte auch der Ankauf der Sammlung chirurgischer und geburtshilflicher Instrumente und Bandagen.

 

Von der umfangreichen geburtshilflichen Bibliothek ist lediglich der Katalog erhalten geblieben. Die „apparative Ausstattung" der Gebäranstalt, die über 44 Betten verfügte, war einfach: ein Geburtsstuhl bzw. Geburtsbett, eine Kinderwaage, ein Messtisch, ein Beckenphantom, einige Spritzen, ein Katheter, eine Schere, ein Leib- und Kopfzirkel, eine Geburtszange und ein Touchierschrank.

 

Folgt man Opitz, so war er dazu bestimmt, „bei Untersuchungen der Schwangeren den Anstand zu wahren und die Schwangere mit Ausnahme des Genitales dem Anblick der Studenten zu entziehen". Das Touchieren erfolgte demnach im Stehen, wobei die Schwangere hinter dem Touchierschrank verborgen blieb.

 

Der von Stein konstruierte Gebärstuhl besaß noch eine Verlängerung, die es erlaubte, eine liegende Position einzunehmen, damit sich die Gebärende zwischen den Wehen ausruhen konnte. Der schwer transportierbare Stuhl war für die überwiegende Zahl von Hausgeburten untauglich. So entwickelte sich der zusammenklappbare Gebärstuhl, den die Hebamme mitbringen konnte.

 

Ab 1820 begann Ritgen, die „Jahrbücher der Entbindungsanstalt zu Gießen" herauszugeben, aus denen sich die Geburtenzahl mit aufschlussreichen Einzelheiten sowie die Zahl der von 1816-1858 ausgebildeten Hebammen entnehmen lässt.

 

Die Geburtenzahl der Accouchieranstalt, die im Volksmund „Engagieranstalt" hieß, stieg von zwei Geburten im November und Dezember 1814 über 47 Geburten im Jahre 1815 auf 168 Geburten im Jahre 1835 bis hin zu 197 Geburten im Jahre 1842.

„Besser als viele Worte spricht den ausgedehntesten Nutzen dieses Institutes die Bemerkung aus, dass seit seiner Entstehung gegen 1700 Personen darin Hülfe und Pflege und gegen 500 Hebammen Unterricht erhielten" in dem Zeitraum 1814-1829.

 

Der 1814 bezogene Bau war nach den Worten eines Zeitgenossen des Jahres 1837 ein „elegantissimum et perfectissimum Licinae fanum".
Der Lageplan zeigt, dass das Entbindungshaus inmitten des Forstbotanischen Gartens lag. Im Hauptgebäude befanden sich der Keller, der u. a. eine Küche mit Speisekammer und eine Waschküche enthielt; der erste Stock umfasste einen Hörsaal, ein Touchierzimmer, ein Sprechzimmer, ein Zimmer für die Wärterin und Oberhebamme sowie den Speiseraum für die Hebammenschülerinnen. Der zweite Stock enthielt drei Zimmer für Schwangere, ein Zimmer für Wöchnerinnen und zwei Zimmer für Kranke. Der dritte Stock umfasste schließlich vier Zimmer für Schwangere, einen Vorratsraum und zwei Schlafräume für die Hebammenschülerinnen zu je 16 Betten. Die Hebammenschule hatte eine Ausbildungskapazität von 30 Schülerinnen. Hebammenschülerinnen durften nicht älter als 30 Jahre alt sein, mussten körperlich und geistig gesund sein, und sie mussten lesen und schreiben können.

 

Während des zweimonatigen Ausbildungskurses wohnten die Schülerinnen im Entbindungshaus und durften dieses ohne Genehmigung der Oberhebamme oder des Hebammenlehrers nicht verlassen. Die Schülerinnen erhielten täglich drei Stunden Unterricht durch den Hebammenlehrer. Nach Ablauf der zwei Monate erfolgte eine Prüfung, über deren Bestehen ein Zeugnis ausgestellt wurde. Bereits sechs Jahre nach erfolgreichem Hebammenexamen mussten sich die Hebammen nachprüfen lassen, ggf. nach vorheriger Schulung. 1842 wurde die Hebammenausbildung auf drei Monate verlängert. Bis zum Jahr 1858 waren 1412 Hebammen ausgebildet worden.

 

Da eine Überfüllung des Landes Hessen mit Hebammen drohte, setzte Ritgen einen Numerus clausus von 30 Schülerinnen pro Kurs durch. Von Ritgens Nachfolgern im Amt als Hebammenlehrer (u.a. Birnbaum, Kehrer, Ahlfeld, Kaltenbach, Löhlein, Pfannenstiel und von Franque) haben sich Kehrer, Ahlfeld und Löhlein besonders dem Hebammenwesen gewidmet. Von Kehrer existiert ein Hebammenlehrbuch.

1864 wurde die Ausbildungszeit der Hebammen auf vier Monate ausgedehnt. Während Ritgen noch selbst den Hebammenunterricht gehalten hat, wurde diese Aufgabe von seinen Nachfolgern auf die in jährlichem Rhythmus wechselnden Assistenten übertragen. Das führte zu einer teilweise nachteiligen Unstetigkeit in der Erfüllung dieser Aufgabe. Löhlein erkannte dieses Problem und legte das Anliegen der Hebammenausbildung im Jahr 1864 in die Hand von Walther (1866-1850), der diese Aufgabe über fast vier Jahrzehnte lang kontinuierlich erfüllt hat. Von ihm stammt ebenfalls ein Lehrbuch für Hebammen.

 

Die von Ritgen initiierten Wiederholungskurse und Nachprüfungen der Hebammen wurden zwischenzeitlich staatlicherseits aufgehoben. Erst Löhlein hatte eine bereits von seinen Vorgängern empfohlene Erweiterung der Hebammenausbildung durch erneute Einführung von Wiederholungslehrgängen im Jahr 1891 durchgesetzt.

 

Grund hierfür waren Neuerungen in geburtshilflichen Verfahrensweisen, wobei die Einführung der Antisepsis (in Gießen im Jahr 1875) einen markanten Einschnitt darstellte.

 

Eine beträchtliche Anzahl der zum Teil über 40 Jahre im Dienst stehenden Hebammen nahm mit großem Interesse und Eifer in den Fortbildungskursen die vielfältigen Neuerungen des Wissens auf, allerdings waren auch bei vielen Hebammen abwehrende Haltungen gegen diese Fortbildungen zu verzeichnen.

 

Die Obrigkeit des Staates akzeptierte die Notwendigkeit der Hebammenfortbildung als ihre Aufgabe und verfügte im Jahr 1891 für die Hebammen eine Übernahme der Fortbildungskosten sowie Entschädigungen für die dadurch ausgefallene Praxis. Hier lag Hessen bereits im Jahr 1891 unter den deutschen Staaten an erster Stelle.

 

Im Jahr 1890 war das neu errichtete Gebäude der Universitätsfrauenklinik am Seltersberg (Klinikstraße) bezogen worden. Mit dem 100jährigen Jubiläum der Universitätsfrauenklinik Gießen im Jahr 1914 waren die Fundamente einer effektiven Aus- und Weiterbildung für Hebammen bereits gelegt.

In diesem Jubiläumsjahr wurde die Ausbildungszeit der Hebammen auf neun Monate verlängert. Der erfolgreiche Abschluss der Ausbildung berechtigte zur Ausübung des Hebammenberufes lediglich in Hessen.

 

Während die Ausbildungskosten von den Schülerinnen selbst oder den sie sendenden Gemeinden getragen werden mussten, übernahm der Staat auch weiterhin die Fortbildungskosten bei bestallten Hebammen. Mittlerweile mussten die Schülerinnen vor ihrem ersten praktischen Lerneinsatz theoretischen Unterricht in Desinfektion, Noninfektion, Anatomie und Physiologie sowie über den Ablauf einer normalen Schwangerschaft und einer normalen Geburt erhalten haben, zusammen etwa acht Wochen. Ab dem siebten Ausbildungsmonat sollten die Schülerinnen bereits die Leitung unkomplizierter Geburten übernehmen.

 

Es wurde jetzt, auch im Bestreben der Vermeidung von Infektionen, bei der Untersuchungstechnik großer Wert auf die äußere Untersuchung der Schwangeren und Gebärenden gelegt und die innere (vaginale) Untersuchung nur bei wichtiger Indikation zugelassen. Die Protokollierung eines Geburtsablaufes war jetzt auch Aufgabe der Hebammenschülerinnen.

 

In der Zeit nach 1918 gewann die Schwangerenfürsorge eine zunehmende Bedeutung, seit sich eine wachsende Aufmerksamkeit auf die Erkennung der „Schwangerschaftstoxikosen" richtete. Da hierbei die Mithilfe der Hebammen unerlässlich war, wurde jetzt an dieser Stelle ein Schwerpunkt des Unterrichtsinhaltes gelegt.

 

Diese entscheidenden Entwicklungen in der Erweiterung der Hebammenausbildung wurden im Wesentlichen von dem mittlerweile langjährigen Hebammenlehrer Prof. Walther in der Gießener Hebammenschule vollzogen.

Walther hatte sich als Frauenarzt und Hebammenlehrer ein erhebliches Ansehen weit über den Gießener Raum hinaus erworben. Sein Lehrbuch für Hebammenschülerinnen (und Wochenpflegerinnen) war weit verbreitet und in zahlreiche Fremdsprachen übersetzt worden.

 

Mit Walthers Emeritierung im Jahr 1933 brach in Gießen die Hebammenausbildung ab.

 

In der Nachkriegszeit befasste sich bereits der Klinikdirektor Kepp mit der Wiederaufnahme der Hebammenausbildung in Gießen. Dem standen jedoch erhebliche kriegsbedingte räumliche Einschränkungen entgegen, die besonders durch die notwendige Teilung des provisorisch wiedererbauten Klinikgebäudes mit der Kinderklinik 1972 gegeben war. Die Neugründung der Gießener Hebammenlehranstalt erfolgte im Jahr 1982.

 

Der zeitliche Rahmen der Ausbildung war mittlerweile auf zwei Jahre ausgedehnt worden.

 

Je Kurs war eine Schülerinnenzahl von maximal 20, später 25 zugelassen. Begann die neugegründete Hebammenlehranstalt in Gießen noch mit einer zweijährigen Ausbildungszeit, so wurde diese durch gesetzliche Bestimmungen auf drei Jahre verlängert.